Das Schweizerische im Schweizer Film

Ausstellungsbeitrag aus dem Jahr 1992 von Felix Aeppli

Dr. phil., Historiker, Filmexperte & Stonologe, CH-8055 Zürich

 

Liegt das spezifisch Schweizerische in der Darstellung der Landschaft? Mit Sicherheit: nein. Landschaft ist im Schweizer Film kaum mehr als Staffage, anonymer Schauplatz im Normalfall, optischer Reiz in den konjunkturell wiederkehrenden Berg- und Heimatfilmen. Liegt das Charakteristische vielleicht am Einsatz der Sprache? Kaum. Unsere Film-Mundarten sind Kunstsprachen, die sich, je nach Bedarf, am Berner Bauerntheater, am vermeintlichen Stadtzürcher Slang oder am Studio Leutschenbach orientieren. Liegt das Typische in der «Gschtabigkeit» der Figuren? Schon eher. Legionen von ungelenken Liebhabern bevölkern seit der Stummfilmzeit die helvetischen Kinoleinwände. All diese Merkmale liefern indes keine hinreichende Definition. Entscheidend ist vielmehr, dass der Schweizer Film puncto Themen- und Stoffwahl mit einer Ausschliesslichkeit national ist, wie dies weltweit in keiner anderen Filmnation der Fall sein dürfte. In einem Satz: Schweizer Filme sind immer zuerst schweizerisch und erst dann Film.

Die Weichenstellung vollzog 1938 Füsilier Wipf (Leopold Lindtberg/Hermann Haller). Ein Drittel des kinomündigen Publikums sah seinerzeit die Geschichte vom Coiffeurgesellen Wipf, der sich im Aktivdienst vom Milchbüebli zum Mann mausert und dabei erst noch die rechte Liebe findet, ein einfaches Landmädchen, das er gegen seine Verlobte, das «Stadttüpfi» Rosa, eintauscht. Seit Füsilier Wipf heisst das Erfolgsrezept: Schweizer Stoffe für ein Schweizer Publikum. Die Anpassung an den marktbeherrschenden US-Unterhaltungsfilm, der «holiwudelnde» Schweizer Film, hat dagegen nicht mehr als ein Dutzend filmische Totgeburten hinterlassen.

Im Lande Pestalozzis, auch hier war Füsilier Wipf bahnbrechend, geht nun aber die Produktion eines Films fast immer mit einem didaktischen Anliegen einher. Dies, nebenbei bemerkt, kommt nicht nur den Filmkritikerlnnen, sondern auch den Förderungsgremien bis zum heutigen Tag entgegen, können sie sich doch so mit der Redlichkeit der Absichten der Filmschaffenden beschäftigen, ohne auf das Medium als solches einzugehen. In der Einschätzung, dass Film nicht einfach Film sei, unterscheidet sich der sogenannt neue Schweizer Film nicht grundsätzlich vom alten, wenn er auch mit umgekehrten politischen Vorzeichen operiert. So wurde die Flüchtlingsgruppe 1945 in Die letzte Chance (Leopold Lindtberg) aus Gründen der Staatsräson in die Schweiz eingelassen, wohingegen die Flüchtlinge in Das Boot ist voll (Markus Imhoof, 1980) zum Schluss ausgewiesen wurden, wie dies der kritischen Optik der 68er Generation entsprach.

Nicht, dass sie sich in den politischen Diskurs einmischen, werfe ich den Schweizer Filmen vor (ich ziehe den ballernden und ratternden Rambos, Bätmännern und Terminatoren jedes noch so bescheidene einheimische Gegengewicht vor), sondern, dass sie ihre Argumentation in aller Regel so linientreu, linear und vor allem so wortlastig führen. Füsilier Wipf ist, fast ohne grundlegende Einbussen, als Hörspiel denkbar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zerredet der Schweizer Film seine Probleme, und nur selten kommt es zu einer produktiven Spannung zwischen Bild und Ton. Dem Kinopublikum erschliesst sich, nicht erst im Zeitalter des Videoclips, natürlich das Bild zuerst, und so haben die Figuren auf der Leinwand ihre liebe Mühe, sich sprachlich auf den Wissensstand des Publikums zu bringen: «Hei, bisch ou do?», fragt in Das Menschlein Matthias (Emil Heuberger, 1941) ein Wirtshausgast einen andern, der wohl schon zehn Sekunden im Bild zu sehen war, worauf der Angesprochene entgegnet: «Sowieso.» (zit. nach: Werner Wider: «Der Schweizer Film 1929-1964. Die Schweiz als Ritual», Zürich 1981, Band 1, S. 61)

Zur Wortlastigkeit gesellt sich ein Hang zur vorzeitigen Versöhnung. Wirtschaftliche Gründe zwingen die Filmproduzenten, ein möglichst grosses Publikum innerhalb der Schweiz anzusprechen, was kaum anders als über den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikumsgeschmacks geht, und der mahnt bekanntlich zur Vorsicht. Deshalb gibt es in der Schweizer Filmgeschichte nichts bodenlos Schlechtes, nichts radikal Unversöhnliches, ja nicht einmal einen richtigen Gangster (wohl aber eine Menge Polizisten und Fahnder). Die echten Aussenseiter lassen sich, zumindest in der Filmproduktion vor 1964, an einer Hand abzählen: Farinet (Max Haufler/Charles Vaucher, 1938), das Portrait eines Walliser Falsch- oder besser: Richtigmünzers, der über eine geheime Goldmine verfügt und sich hoch in den Felsen über die Beamten mit ihren Gichtknochen lustig macht, gehört dazu, oder auch Arnold Murer in Steibruch (Sigfrit Steiner, 1942), ein US-Heimkehrer, der dort wegen Mordes im Gefängnis sass und sich nun nicht einfach in die Dorfgemeinschaft integrieren lassen will. In Wilder Urlaub (Franz Schnyder, 1943) wird der Ausreisser indes nach zwei Dritteln wieder heimgeholt, nachdem als Vorgeschichte einer helvetischen Desertion in geradezu Eisenstein-artiger Montage Ober- und Unterschicht aufeinanderprallen.

Nie kommt im Schweizer Film jene Doppelbödigkeit auf, die alle grossen Filmwerke von La règle du jeu über Citizen Kane bis hin zu Tarkowskis Der Spiegel auszeichnet (vielleicht abgesehen von den frühen Filmen Alain Tanners, die freilich auch stark vom Wort leben). Ja, schon mit der Komik haben unsere Filmschaffenden ihre liebe Mühe: Es wird auf der Leinwand wohl mehr gelacht als im Kinosaal. Selten ist ein Film so missraten wie De achti Schwyzer. Der «achte Schweizer», derjenige, der gemäss Statistik eine Ausländerin heiratet, wurde an der Landi 39 unter einer Käseglocke an den Pranger gestellt. Regisseur Wälterlin und sein Team wollten sich 1940 über diese Diskriminierung lustig machen. Doch die angestrebte Satire schlägt völlig fehl, weil es im Film von Ausland-, Halb-, Viertel- und Achtelschweizern und -schweizerinnen nur so wimmelt. Nicht genug damit: Der Bundesrat verbot den Film noch vor der Uraufführung, mit der Begründung, er könnte im Ausland den Anschein erwecken, es sei in der Schweiz unerwünscht, dass Schweizer sich mit Ausländerinnen verheiraten...

Der ausländischen Bevölkerung wurde im neuen Schweizer Film mehr Gerechtigkeit zuteil. Siamo italiani (Alexander J. Seiler, 1964) konfrontierte Schweizer und Schweizerinnen mit ihren eigenen Vorurteilen, und in Seriat (Marlies Graf Daetwyler/Urs Graf, 1990) bestimmte die portraitierte türkische Familie aus Olten die Form des Films weitgehend selbst. Das Fremde darf dabei durchaus fremd bleiben.

Die Zusammenarbeit mit den Betroffenen gehört zu den Markenzeichen des Schweizer Films seit den siebziger Jahren. Dies schliesst politisches Engagement nicht aus. Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (Richard Dindo, Niklaus Meienberg, 1976) klopfte anhand von Zeugenaussagen die Mythen der Landigeneration ab und wies eindrücklich nach, dass die Nation so solidarisch nicht war, wie sie sich in zeitgenössischen Beiträgen wie Füsilier Wipf oder Landammann Stauffacher (Leopold Lindtberg, 1941) gab. Die letzten Heimposamenter (Yves Yersin, Eduard Winiger, 1973) oder Wir Bergler in den Bergen (Fredi Murer, 1974) liessen ethnographisch präzis und im Detail packend eine Schweiz von unten ins Bild und zu Wort kommen, Beschäftigte der Basler Seidenbandweberei im einen, Urner BergbewohnerInnen im andern Fall. Reisen ins Landesinnere (Matthias von Gunten, 1988) schliesslich, ein Portrait von sechs Menschen im Laufe eines Jahres, ist einer der seltenen Filme hierzulande ohne noch so wohl gemeinte Botschaft. Ein Film, der keinen eigentlichen Anlass hat und in dem dann nichts weniger aufleuchtet als die Absurdität des Alltages. Ein feiner Humor begleitet selbst jene Leute, die jeweils ganze Wochenenden in Zürich-Kloten Flugzeuge beobachten und dabei doch nie über die Würstlibude herauskommen, die speziell ihretwegen am Pistenrand eingerichtet wurde.

 

Quelle:

Sonderprogramm des "Filmpodiums" zur Ausstellung "Sonderfall? - Die Schweiz zwischen Réduit und Europa" (Schweiz. Landesmuseum Zürich), Sept./Okt. 1992, S. 2f

 

 

Felix Aeppli’s Web-Dokumentation Schweizer Film und Film in der Schweiz

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