Zaghafte Fragen zur schweizerischen Asylpolitik:
Leopold Lindtbergs Die letzte Chance (1944/45)

Katalogbeitrag aus dem Jahr 1998 von Felix Aeppli

Dr. phil., Historiker, Filmexperte & Stonologe, CH-8055 Zürich

 


Als im Oktober 1944 in der Magadino-Ebene im Kanton Tessin die Dreharbeiten zu Die letzte Chance begannen, wandten sich die Filmschaffenden einem Thema von brennender Aktualität zu. Inhalt: Oberitalien im Herbst 1943. Der englische Leutnant Halliday und der amerikanische Sergeant Braddock fliehen aus einem deutschen Kriegsgefangenenzug. Sie wollen sich in die Schweiz durchschlagen. Unterstützt von italienischen Zivilisten erreichen sie ein Bergdorf, die letzte Station vor der Grenze hoch im Gebirge. Sie werden vom Dorfpfarrer versteckt und lernen den englischen Major Telford kennen. Im Zusammenhang mit Mussolinis Befreiung greifen deutsche Truppen das Dorf an. Der Pfarrer wird hingerichtet. Die drei Angelsachsen entscheiden sich, eine Gruppe von Flüchtlingen, die vom Pfarrer auf ihre Flucht vorbereitet worden ist, in die Schweiz zu führen, welche für sie - daher der Filmtitel - die letzte Chance darstellt. Aufstieg im Schneesturm und ein letzter Zwischenhalt in einer Berghütte. Bernhard, ein junger Deutscher, lenkt unter Einsatz des eigenen Lebens die deutsch-italienische Grenztruppe ab. Er stirbt unter deren Kugeln wie auch ein alter jüdischer Schneider. Halliday, der den Juden retten will, wird schwer verwundet, erreicht aber, wie die übrigen Flüchtlinge, die Schweiz. Durch ein Telefongespräch mit Bern erwirkt der Schweizer Grenzoffizier, daß den Flüchtlingen entgegen den geltenden Bestimmungen politisches Asyl gewährt wird. Halliday stirbt auf dem Weg ins Spital und wird mit militärischen Ehren bestattet.

Die letzte Chance bot dem Schweizer Kinopublikum optisch und inhaltlich eine  ganze Reihe von Neuerungen: Die Waffen-SS wurde gezeigt, ein faschistischer Spion trat auf, nächtliche Deportationen und ein Massaker an der Zivilbevölkerung kamen ins Bild, in der Tat ungewöhnte Einstellungen für eine Bevölkerung, welcher die Zensur während der gesamten Kriegsdauer Aufnahmen von Flüchtlingen vorenthalten hatte. Auch die Darstellung, ja nur schon die Erwähnung des Gegners war im einheimischen Filmschaffen in all diesen Jahren völlig tabuisiert gewesen. Da Presse, Rundfunk und Film während des Krieges in der Schweiz der Zensur unterstanden, lag für Filmprojekte faktisch eine Vorzensur vor, denn das Risiko eines Verbots nach Fertigstellung eines Films konnte kein Produzent eingehen. Angesichts der Thematik von Die letzte Chance waren die Behörden von Anfang an besonders wachsam. Dies um so mehr, als Lazar Wechsler, der Gründer der Praesens-Film AG, die den Film produzierte, aus Russischpolen stammte und in Verdacht stand, kommunistische Propaganda zu betreiben, nachdem er 1944 den von der Zensur verbotenen Film über die Wendeschlacht von Stalingrad importiert hatte. Regisseur Leopold Lindtberg als jüdischer Österreicher war ebenfalls suspekt, zumal er als Hausregisseur am Zürcher Schauspielhaus amtete, das zur letzten freien deutschsprachigen Bühne Europas geworden war und sogar Brecht inszenierte...

Die Dreharbeiten zu Die letzte Chance wurden wiederholt von den Behörden behindert. Mehrmals wurde den ausländischen Hauptdarstellern, die im Film ausnahmslos in ihrer Muttersprache redeten (auch dies eine formale Neuerung), die Arbeitsbewilligungen verweigert. Dann wieder erklärte die Zensurstelle im letzten Moment Drehorte zu Objekten von militärischer Bedeutung, was kostspielige Umdispositionen nötig machte. Noch kurz vor der Premiere, die wegen der schikanösen Verzögerungen erst knapp drei Wochen nach dem Waffenstillstand stattfand, ließen sich drei Mitglieder der Landesregierung in Begleitung einiger hoher Offiziere den Films zur Kontrolle ein letztes Mal vorführen. Ihre Reaktion war eisig bis ablehnend: Der Chef des Militärdepartements rügte, daß ein Gradabzeichen auf einer Uniform falsch angebracht worden sei, und ein anderer Magistrat stieß sich daran, daß es der Schweizer Heilkunst nicht einmal gelinge, den angeschossenen Engländer zu retten, während der Film permanent hilfsbereite Amerikaner und sympathische Italiener vorführe.

Für Fachleute jedoch waren die formalen Qualitäten des Films sofort offenkundig: Mit seiner nüchternen Filmsprache und seiner Detailtreue gehört Die letzte Chance zu den allerersten Filmen im Zeichen des Neorealismus’. Und thematisch gesehen bedeutete das Aufgreifen der Flüchtlingsproblematik 1944/45 gewiß einen mutigen Schritt, wenn auch unübersehbar ist, daß die Kritik am Mythos der helfenden Schweiz ausschließlich in der Verzögerung liegt, mit der die offizielle Bewilligung für den Aufenthalt der Gruppe eintrifft, von der ja auch niemand abgewiesen wird. Wohl nicht zufällig bleibt ein Satz des Truppenarztes unvollendet: “Wir tun, was wir können, aber.” Mit den hier anzufügenden Widersprüchen, etwa der Tatsache, daß Juden in der Schweiz während des Krieges nicht als politische Flüchtlinge anerkannt wurden oder daß der J-Stempel in Deutschland 1938 aufgrund einer Schweizer Empfehlung eingeführt worden war, hätte sich die Produktionsfirma wohl allerseits in die Nesseln gesetzt. Filmproduzent Wechsler als vorsichtiger Unternehmer ritzte demzufolge den Lack des Schweizbildes nicht übermäßig. So blieben auch alle Klischee-Vorstellungen der Ausländer unwidersprochen: Die Schweiz ist das Land, in dem vier Kulturen friedlich zusammenleben, in dem es Milch zu trinken und genügend zu essen gibt, und in dem man gleich an sieben guten Universitäten studieren kann.

Als Spiegelbild seiner Entstehungszeit liefert Die letzte Chance gleichsam eine Illustration der Botschaft “Neutralität und Solidarität”, mit der der Bundesrat 1947 die schweizerischen Außenpolitik neu definierte. Doch die Debatte über die Flüchlingspolitik oder die weiteren Verwicklungen der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges fanden weder in diesem Film noch nach Erlaß der bundesrätlichen Botschaft statt. (Hätte sie damals, 1947, stattgefunden, würden wohl die Auseinandersetzungen um Transitverkehr, Nazigold, Verdunkelungen oder die Rolle der Armee jetzt, fünfzig Jahre danach, in der Schweiz nicht dermaßen emotional geführt.) Während nämlich Die letzte Chance nur ganz vorsichtig am Mythos der kleinen, hilfsbereiten Schweiz kratzte, ebnete sie andererseits den Weg zur nächsten Verklärung: Bezeichnenderweise sind es drei Angelsachsen, welche die Flamen, Deutschen, Österreicher, Serben, Holländer und Juden in ihrer Kriegsodyssee geleiten. Die internationalen Auszeichnungen, welche dem Film in der Folge zuteil wurden (Preis der New Yorker Filmkritiker und Golden Globe in Hollywood, 1945; internationaler Friedenspreis in Cannes, 1946) bewirkten, daß die Praesens-Film AG, welche mit ihrem eingespielten Team die Schweizer Filmproduktion der unmittelbaren Nachkriegszeit praktisch im Alleingang bestritt, die einheimischen Stoffe rasch aus den Augen verlor. In ihrer blinden Liebedienerei allem Amerikanischen gegenüber ging sie 1949 im Film Swiss Tour sogar soweit, vier G.I.’s zu erlauben, sich größer als das Matterhorn ins Bild zu setzen. Der Kalte Krieg tat ein übriges: Die Vier im Jeep, der nächste Film der Firma, der 1951 im besetzten Wien spielte, kreiste dramaturgisch ausschließlich um die Frage, ob es auch dem Russen im Jeep der vier alliierten Kontrollmächte gelingen würde, menschliche Züge zu zeigen.

Dies war nun gerade nicht das Klima, die eigene Vergangenheit kritisch auszuleuchten. Erst die 68er-Generation hat sich dann filmisch mit der Flüchtlingsthematik auseinandergesetzt, wobei Markus Imhoofs Das Boot ist voll (1980) sozusagen die Antithese zu Lindtbergs Arbeit von 1945 abgab. Darin kam abermals eine Gruppe von Flüchtlingen in die Schweiz, diesmal durch einen Tunnel in den nördlichsten Zipfel des Landes. Bis auf einen Franzosenknaben im Vorschulalter werden sie aber alle innert Kürze wieder ausgewiesen.

Rotes Kreuz und Schweizer Kreuz: Abgesehen von der Wehrhaftigkeit hat kein anderer Mythos das Schweizbild nachhaltiger geprägt als derjenige des selbstlosen opferbereiten Landes. Demgegenüber versuchte 1944/1945 der Film Die letzte Chance, die schweizerische Asylpolitik im Zweiten Weltkrieg zur Diskussion zu stellen. Die selbstkritischen Ansätze wurden jedoch durch permanente Schikanen der Behörden bereits im Keim erstickt. So blieb der fertiggestellte Film merkwürdig zahm in seiner Argumentation und in seinen Schlußfolgerungen, was ihm indessen den Weg zum nationalen wie internationalen Erfolg eher erleichtert haben dürfte.

 

Quelle

Mythen der Nationen - Völker im Film (Ausstellungskatalog), Deutsches Historisches Museum, Berlin, 1998, S. 308-311

 

Der Autor

Felix Aeppli ist promovierter Historiker und regelmäßiger Lehrbeauftragter des filmwissenschaftlichen Seminars an der Universität Zürich. Zusammen mit Werner Wider hat er die Publikation Der Schweizer Film 1929-1964: Die Schweiz als Ritual, 2 Bände (Zürich: Limmat Verlag, 1981) verfaßt.

 

Felix Aeppli’s Web-Dokumentation Schweizer Film und Film in der Schweiz

E-mail an den Autor

Home