Kommissare und Küsse im Schweizer Film: Neue Methoden im Geschichtsunterricht

Artikel aus dem Jahr 1993 von Felix Aeppli

Dr. phil., Historiker, Filmexperte & Stonologe, CH-8055 Zürich

 

Geschichte war in meiner eigenen Schulzeit und teilweise sogar noch während der Studienjahre gleichbedeutend mit einer endlosen Abfolge von Reichsgründungen, Kaiserkrönungen, Schlachten und Reichszusammenbrüchen. Falls wir Quellen für den Unterricht benutzten, was selten genug vorkam, so lagen uns diese ausschliesslich in Schriftform vor. In den letzten zwanzig Jahren ist die Geschichtswissenschaft glücklicherweise für neue Fragestellungen und Methoden offener geworden. Der Blick auf das Wirtschaftsleben im Alltag, die Untersuchung von Wohnformen und nicht zuletzt die Frage nach der Stellung der Frau haben ihr neue Impulse verliehen. Der Kurs «Zürich seit 1850: Begehen - erfahren - begreifen» an der Berufsschule für Erwachsenenbildung, EB Wolfbach, Zürich, versucht, die neuen Fragestellungen miteinzubeziehen, indem er die Teilnehmenden bei ihrer eigenen Erfahrung abholt und sich nach dem Motto «Grabe, wo du stehst» möglichst weitgehend im Freien abspielt.

Eine weitere Methode des zeitgeschichtlichen Unterrichts baut vor allem auf Bildquellen auf, insbesondere auf dem Medium Film. Jeder Film spiegelt seine Entstehungszeit, sei es bewusst oder unbewusst. Dadurch, wie er Themen auswählt oder übergeht, dadurch wie er seinen Stoff präsentiert und wie er die Erwartungen des Publikums trifft oder verfehlt. Ein Film ist damit nicht einfach Spiegel der Wirklichkeit, er bildet vielmehr Bestandteil der ideologischen Realität seiner Zeit. Voraussetzungen für den Besuch derartiger Kurse gibt es keine, genausowenig wie bei den lokalgeschichtlichen Themen. Um einigermassen gleich lange Spiesse für die Diskussion zu schaffen, schauen wir uns Filmausschnitte von 15 bis 25 Minuten Dauer an. Längere Ausschnitte, so meine Erfahrungen, töten mögliche Diskussionspunkte vorzeitig ab. In der anschliessenden Auseinandersetzung besteht meine Rolle vorwiegend in der eines Diskussionsleiters, wobei ich die Fragen bewusst einfach halte: «Was ist Ihnen aufgefallen?» «Hat Ihnen etwas besonders gefallen?» «Warum haben Sie gelacht?» Die «grossen» Themen entwickeln sich dann aus den Antworten fast von selbst. Die Kursthemen erweitern sich ständig. So entstand aus «Schweizer Zeitgeschehen in Bild und Film» unter Einbezug der internationalen Produktion einerseits ein Kurs «Film und Propaganda», andererseits führte die Feststellung, dass sich im einheimischen Filmschaffen wohl eine Menge Polizisten, kaum aber ein richtiger Gangster findet, zu einem neuen Thema «Der Fahnder im Schweizer Film». Daraus wiederum entsprang die Beobachtung, dass die helvetischen Fahnder meist einsame Männer waren, was das zunächst überraschende Folgethema «Der Kuss im Schweizer Film» nach sich zog. Die Ausschreibung im Kursprogramm lautete wie folgt: «Allenwil ist nicht Hollywood: Als typischen helvetischen Liebhaber hat uns der alte Schweizer Film jahrzehntelang den “Gschtabi” präsentiert, den ungelenken Jüngling, der scheu seiner Auserwählten sich zu nähern hatte. Sie ihrerseits konnte kaum anders als mit keuschem Abwarten auf die Verehrung reagieren. Gleichzeitig bevölkerten zahllose Bastarde die helvetischen Kinoleinwände, als wandelnde Abschreckung unerlaubten Lebenswandels. Wie haben sich die Geschlechterbeziehungen im Schweizer Filmschaffen seither verändert? Lässt sich ein Wandel in den gesellschaftlichen Leitbildern erkennen?»

Die viertelstündige Eröffnungsszene aus dem Klassiker Füsilier Wipf (Leopold Lindtberg / Hermann Haller, 1938) bringt gleich eine Überraschung: Rosa, die Tochter des Coiffeursalon-Besitzers Wiederkehr, ist eine selbstbewusste, attraktive junge Frau, die sofort die Initiative ergreift und den linkischen Friseurgesellen Wipf mit Charme und Liebkosungen bedrängt. Die KursteilnehmerInnen bemerken sogleich den Widerspruch zur Kursausschreibung. Waren die Verhältnisse eventuell in den dreissiger Jahren anders, als Füsilier Wipf entstand? Oder am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der Epoche, in welcher der Film beginnt? Zwei weitere Filmausschnitte rücken die Verhältnisse zurecht: Wipf verliebt sich im Aktivdienst in Vreneli, ein einfaches Mädchen vom Land, und löst anschliessend seine Verlobung mit dem «Stadttüpfi» Rosa. So stehen wir sogleich in der Diskussion des Stadt-/Landgegensatzes und der Wertung, die dieser im Zeichen der geistigen Landesverteidigung erfuhr. Von da her behandeln wir die Frage, welches Bild der Film von der Schweizer Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs zeichnet: Weshalb hört der Film am 1. August 1918 auf und nicht mit dem tatsächlichen Kriegsende, das in der Schweiz mit dem Landesstreik zusammenfiel? Worum ging es in diesem Arbeitskampf, der das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte? Die Zeit reicht kaum noch aus, um am ersten Kursabend zwei Sequenzen aus Matura-Reise (Sigfrit Steiner, 1942) anzusehen, eine Produktion, die der raren Sparte des «holiwudelnden» Schweizer Films zuzurechnen ist. Wir wundern uns darüber, dass man mitten im Zweiten Weltkrieg derart belanglose Unterhaltung ins Kino brachte, sind uns aber gleichzeitig darin einig, die Behandlung ähnlicher Stoffe mit Vorteil den amerikanischen Filmschaffenden zu überlassen.

Am zweiten Abend schauen wir ausnahmsweise einen Film in voller Länge an. Diesmal habe ich auch keine urheberrechtlichen Schwierigkeiten zu befürchten, wenn ich Filme aus meiner eigenen Videothek mitbringe: Fräulein Huser (Leonard Steckel, 1940) galt bis vor kurzem als verschollen. Ich habe mir über einen Sammler in Wien eine Kopie des Films besorgt. Sie stammt aus London und hat, eine ungewöhnliche Attraktion für uns alle, englische Untertitel. Im Mittelpunkt des Films steht die 25-jährige Zuschneiderin Irene Huser, die sich in einen älteren, wie sich herausstellt verheirateten Mann verliebt. Während Fräulein Huser wieder einmal erfolglos mit sich ringt, ob sie nun auf die Einladung ihres Frank reagieren soll, ruft plötzlich jemand ins dunkle Schulzimmer: «Das isch ja genau wie mini Mama». Am baseldeutschen Akzent erkenne ich Maria, die als Kursziel angegeben hat, sie möchte erfahren, wie Liebesbeziehungen sich abspielten, als ihre Eltern jung waren. Anhand einer zeitgenössischen Filmkritik aus dem katholisch-konservativen Lager, die den Filmschaffenden von Fräulein Huser vorhielt, das Thema der «nebenehelichen Liebe» leichtfertig zu behandeln, besprechen wir unsere eigenen Eindrücke, namentlich das Schwanken zwischen Heimlichkeiten und uneingestandenen Gefühlen. Wie die übrige Kritik gewesen sei, werde ich gefragt. Ich zitiere aus dem sozialdemokratischen «Volksrecht», das an der Porträtierung von Vater Huser Anstoss nahm. In der literarischen Vorlage zum Film sei Huser aktiver Gewerkschafter, im Kino jedoch lediglich als vertrottelter pensionierter Trämler zu sehen, der nichts anderes als seinen Kaninchenstall im Kopf habe. Sepp, Geschichtslehrer an der Berufsmittelschule, erblickt indes gerade in diesem Vater Huser das unfreiwillige Porträt der domestizierten SP, die kurz nach der Premiere von Fräulein Huser einen ersten Sitz im Bundesrat erhielt - als Belohnung für ihr Bekenntnis zum Arbeitsfrieden und zur bewaffneten Landesverteidigung. So landen wir anhand eines erfolglosen Films, der sich zwischen alle Stühle setzte, beim Schulterschluss der grossen Parteien in der Schweizer Geschichte. An sich ständen nun Romeo und Julia auf dem Dorfe und Der Schuss von der Kanzel, zwei Literaturverfilmungen von 1941/42, auf dem Programm. Doch auf diese «Kunstprodukte» hat niemand Lust. Speziell die Vierzig- bis Fünfzigjährigen im Kurs, und das sind gut die Hälfte, drängen darauf, gleich zu den filmischen Realitäten der Fünfzigerjahre vorzustossen, in denen sie ihre eigene Jugendzeit wiederzufinden hoffen.

Polizischt Wäckerli (Kurt Früh, 1955) bringt den barschen Ton von damals eins zu eins auf den Bildschirm zurück: Wäckerli, Polizist und Patriarch in Personalunion, misstraut nicht nur seinem Sohn auf Schritt und Tritt («Ruedi, das isch Lölizüüg!» «So, saisch nüüt, immer no besser als aalüüge»), er verbietet auch seiner erwachsenen Tochter, abends um acht Uhr noch auszugehen. Küsse, auch das ein Ergebnis, gibt es im ganzen Film keine zu sehen. Christine macht derweil eine interessante Beobachtung: Die Filmehemänner, die sich ihren Frauen gegenüber so barsch und bärbeissig benehmen, werden im Berufsalltag fast überall als joviale Typen geschätzt. Eine Erfahrung, die fast alle Frauen im Kurs bezüglich ihren Vätern teilen. Christine, die im Bernbiet aufgewachsen ist, möchte überdies in Erweiterung des Programms die Gotthelf-Verfilmungen der fünfziger Jahre mit einbeziehen, was von allen begrüsst wird. Ausschnitte aus Uli der Knecht und Jakobli und Meyeli (Franz Schnyder, 1954 und 1961) überraschen abermals: Die Frauen in diesen Filmen sind starke Figuren, die die Zügel fest in den Händen halten. Die alte «Glunggenbäuerin» fädelt die Beziehung zwischen Uli und Vreneli überhaupt erst ein und muss dabei den Knecht richtiggehend drängen, dem Mädchen endlich ein «Müntschi» zu geben. Die Stärke der Frauenfiguren ist indes ausschliesslich auf die literarischen Vorlagen Gotthelfs zurückzuführen. Schnyders Filmregie ist demgegenüber gelegentlich geradezu frauenverachtend, etwa dann, wenn er keifende Mägde inszeniert und sie dabei genüsslich ins «Bschüttiloch» stürzen lässt. Stefan, Regiemitarbeiter am Theater am Neumarkt, macht darauf aufmerksam, dass Schnyder seine Figuren viel professioneller und abwechslungsreicher führt als die Regisseure, deren Filme wir bis zu diesem Zeitpunkt gesehen haben. Obschon die Gotthelf-Verfilmungen in einer ganz andern Welt spielen als die Zürcher Kleinbürgerfilme à la Wäckerli, gelingt es uns, die gesellschaftlichen Parallelen offenzulegen: Hier wie dort gibt es eine starre, normgebende Gesellschaftsordnung; entweder man/frau fügt sich ihr oder steht gänzlich ausserhalb. Von hier aus bietet sich der Sprung zum Aufbruch von 1968 an. Ein paar Aufnahmen aus dem Film Krawall (Jürg Hassler, 1970), die im Zürcher Globusprovisorium spielen, lassen die antiautoritäre Grundstimmung von 1968 beinahe mit den Händen greifen. Eng umschlungen tanzen junge Paare zu Klängen der Rolling Stones, während im Off die Aktivdienstgeneration das gottlose Treiben beklagt. In der Tat: «1968 wurde sogar die Liebe ein bisschen entschweizert», wie Niklaus Meienberg im Kommentar zu Liebeserklärung (Janett/Bischof/Hubschmid, 1988) meint, einem Montagefilm, den wir aber nicht sehr schätzen, weil er uns zu sprunghaft und zu reisserisch vorgeht. Da halten wir uns lieber an längere Ausschnitte aus den Originalen. Überall ist darin der alte Mief einer neuen Lässigkeit gewichen. Und doch sind wir «Achtundsechziger» im Kurs alle ein wenig enttäuscht: Wir hatten die Filme der späten sechziger und frühen siebziger Jahre spontaner und bedeutend sinnlicher in Erinnerung. Jetzt kommt uns die Sinnlichkeit fast nur intellektuell vor, und wir fragen uns sogar, ob die Lässigkeit der welschen Copains in den Filmen Tanners und Soutters, die uns damals so beeindruckte, möglicherweise lediglich eine weitere Spielart der helvetischen Gstabigkeit ist.

Unübersehbar und überzeugender als einst ist die Tatsache, dass die Hoffnungen nun eindeutig auf Seiten der Frauen zu finden sind. Damit wird die Frage geradezu provoziert, ob Filme, die von Regisseurinnen gedreht wurden, anders sind. Le livre de Marie ist eine Geschichte um die Trennung eines Paares mit einer elfjährigen Tochter, 1984 gedreht von Godards Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville. In einem Vergleich mit Godards eigenem Film aus demselben Jahr, Je vous salue, Marie, wird schlagartig klar, was Frauen anders wahrnehmen und anders zeigen: Er, der Mann, kann es nicht lassen, basketballspielende Gymnasiastinnen aus der Hüfthöhe heraus zu filmen und sie wiederholt in Grossaufnahmen zusammenprallen zu lassen. Miéville, die Frau, wahrt stets Distanz zu ihren Personen, bewusst vermeidet sie eine Fragmentierung der Körper, wie sie für zeitgenössische Videoclips und einen Grossteil der Werbung charakteristisch ist, und somit zeigt sie das halbwüchsige Mädchen auch nie als Objekt erotischer Phantasien. Belustigt nehmen wir zur Kenntnis, dass die viertelstündige Jugendsendung Schlips des Schweizer Fernsehens zum Thema «Der Kuss» vom Herbst 1992 bedeutend mehr Küsse enthält, als wir im ganzen bisherigen Kurs zu sehen bekamen. Pipilotti Rists Pickelporno (1992) schlägt den männlichen Voyeurismus auf dessen eigenem Terrain: Der Tast-Film der kurzsichtigen Videoschaffenden schwebt durch Köperschluchten, verfängt sich im Haarmoos und taucht ein in unendliche Innenräume. Genug! - Zum Abschluss versprechen sich die Teilnehmenden, beim nächsten Kurs wieder dabei zu sein, unabhängig davon, ob dieser vom «Kaninchen im Schweizer Film» oder von «Fahrten und Fluchten» handle.

 

Quelle: Wolfbach Hauszeitung, Berufsschule für Weiterbildung, Zürich (Okt. 1993), S. 12-15

Felix Aeppli, Hauptlehrer mit halbem Pensum für politische Bildung und Zeitdokumentation, ist Historiker. Er schrieb eine Dissertation über das Städtebild Thomas Jeffersons, verfasste die Materialsammlung «Der Schweizer Film 1929-1964: Die Schweiz als Ritual» (Zürich, 1981) sowie die Rolling Stones Diskographien «Heart Of Stone» (Ann Arbor, USA, 1985) und «The Rolling Stones, 1962-1995: The Ultimate Guide» (London, 1996) . Von 1990-1996 regelmässiger Lehrbeauftragter am filmwissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Mitarbeiter des Historischen Lexikons der Schweiz und der NZZ am Sonntag.

 

 

Felix Aeppli’ s Web-Dokumentation Schweizer Film und Film in der Schweiz

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