Gerechtigkeit mit Brissago

 

Heinrich Gretler als «Wachtmeister Studer» ist eine Kino-Legende - und brillant restauriert auf DVD greifbar. Von Felix Aeppli

 

Studer heisst der berühmteste Schweizer Polizist, und Studer ist gleich Gretler: Es fällt schwer, sich Friedrich Glausers legendären Wachtmeister losgelöst von der Schauspieler-Ikone Heinrich Gretler vorzustellen. Dessen mitfühlender, mitunter melancholischer Blick, die Knollennase, die gedrungene Gestalt im offen getragenen Mantel, auch das Bärbeissige - all diese Attribute des helvetischen Fahnders schlechthin überlagern die Romanfigur. Leopold Lindtbergs Klassiker von 1939 war der Prototyp und ist nun brillant restauriert als DVD greifbar.

 

Schon Gretlers Fahnder unterscheidet sich von der literarischen Vorlage: Dort wird er uns nämlich mit bleichem Gesicht und merkwürdig schmaler Nase vorgestellt. Ins Gewicht freilich fällt anderes. Für den Film beispielsweise ist alles Sexuelle aus der Vorlage gekippt worden. Studers Frau Hedy wird dem Kinopublikum vorenthalten, und der Lehrer, der zur Tatzeit mit einer Schülerin im Wald unterwegs ist, wird zum Apotheker, welcher permanent der Obrigkeit nach dem Mund redet. Unterschlagen wird im Film auch, dass der Gemeindepräsident seine Nichte missbraucht und dabei ertappt wird ‑ was im Roman erst das Motiv für die Erpressung hergibt. Es ist keine heile Schweiz, die uns hinter den blumengeschmückten Fassaden entgegentritt, doch haben Lindtberg und sein Team erheblichen Tribut der geistigen Landesverteidigung gezollt. Werner Wider hat 1981 vom «Landi-Studer» gesprochen, der die Subversivität der Originalfigur dem Zeitgeist geopfert habe. In der Tat: Im Film fehlen sämtliche gesellschaftskritischen Passagen, welche die innere Einheit der Schweiz in Frage stellten. Während Glausers Studer sich mit dem Polizeiapparat, den er vertritt, nie identifiziert, gibt Gretler einen Beamten, der sich in den Dienst der Ordnung stellt, indem er mehr tut als seine Pflicht. Es passt in dieses Bild, dass der Autor Glauser - Morphinist, Anstaltsinsasse und ehemaliger Fremdenlegionär, der Ende 1938 noch vor Beginn der Dreharbeiten verstorben war - alsbald in Vergessenheit geriet, während Gretler bis zu seinem Tod 1977 mit seiner Paraderolle identifiziert wurde.

 

Er war auch für die Hauptrolle gesetzt, als die Praesens-Film 1943 einen weiteren Glauser-Stoff anging. «Matto regiert», wieder mit Lindtberg als Regisseur und erst 1947 fertig, spielt in einer Irrenanstalt, wo der Direktor tot im Liftschacht aufgefunden wird. Und abermals gibt es zwischen Roman und Film bedeutsame Unterschiede. Bei Glauser ist der Kriminalfall kaum mehr als Ausgangspunkt zur Reflexion über den allgegenwärtigen Wahnsinn in der Welt, angesichts dessen auch Studer als Kriminalist versagt. Anders in der Filmversion: Hier ist der Wahnsinn eher bizarre Dreingabe in der Charakterisierung der Anstaltsinsassen. Umgekehrt ist Gretler/Studer, der exakt in der Aufmachung des ersten Films auftritt, nahezu omnipräsent. Er durchkämmt das Klinikareal, behält die Fäden in der Hand und löst zum Schluss den Fall. Die NZZ machte in Studers charakteristischer Brissago entzückt gar «ein Ausrufezeichen helvetischer Gerechtigkeit» aus. Das Kompliment hätte Glauser wohl zutiefst geschockt.

 

Die fünfziger Jahre, kriminalpolitisch im Schatten von Schaggi Streulis «Polizischt Wäckerli» stehend, waren erst recht nicht die Umgebung für eine Glauser-gerechte Literaturadaptation. Im Zuge der 68er Bewegung wurde dieser indes als Autor wiederentdeckt, und gleich drei Titel wurden in Farbe fürs Fernsehen verfilmt: «Krock & Co.» (Rainer Wolffhardt, 1976), «Der Chinese» (Kurt Gloor, 1979) und wieder «Matto regiert» (Wolfgang Panzer, 1980). Die Filme kamen den sozialkritischen Aspekten der Vorlagen wesentlich näher, entgingen aber, mit Oldtimer-Postautos und knatternden Motorrädern, nicht immer der Gefahr der nostalgischen Verklärung. Hans Heinz Moser ist hier der Studer, der sich an Gretlers Interpretationen orientierte, mit seinem bedächtigen Berndeutsch aber weniger forsch auftrat und zum Gewinn der Filme eher dem eigenen Blick als dem Wort vertraute.

 

Raffiniert löste 2001 Sabine Boss für eine abermalige Verfilmung von «Matto» angesichts des übermächtigen Duos Gretler/Moser die Besetzungsfrage der Hauptfigur. Für «Studers erster Fall» verlegte sie die Handlung in die Gegenwart mit Grossraumbüros, Tiefgaragen und Polizeisirenen und besetzte die Rolle des Wachtmeisters mit einer Frau (Judith Hofmann als Claudia Studer), die sich gegen das Macho-Gehabe ihres Vorgesetzten zu behaupten weiss. Boss' jüngster Thriller, «Kein Zurück - Studers neuster Fall», mit demselben Stab hat mit der Romanfigur noch den Namen gemeinsam. Glauser ist fern.

 

«Wachtmeister Studer», DVD, Praesens-Film 24226, 105 Minuten, plus Bonus-Beiträge (u.a. mit einer Einführung von Felix Aeppli und mit dem gesamten Romantext als pdf-File).

 

 

Quelle                                                                                        

NZZ am Sonntag, 25. Nov. 2007, S. 70

 

Journalistische Arbeiten von Felix Aeppli                         

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Aeppli’s Seite “Schweizer Film - Film in der Schweiz”  

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