Wohl bezeichnend: Die Geschichte des Schweizer Films kennt keinen einzigen richtigen Gangster. Kein gutes Klima also für Aussenseiter, um filmisch ins Bild zu gelangen oder gar von einer Randposition aus Sympathien des Publikums zu gewinnen. In der Epoche der Geistigen Landesverteidigung setzte sich thematisch der nationale Schulterschluss durch, und davon kam die einheimische Filmproduktion bis zum Ende des alten Schweizer Films Mitte der sechziger Jahre nicht mehr los. Danach, im Zeichen des Aufbruchs von 1968, bekamen Oppositionelle durchaus ihre Chance für einen Filmauftritt. Im folgenden Jahrzehnt wurde das Dokumentarfilmschaffen sogar als ganzes oppositionell. Doch in der jüngsten Vergangenheit feierte die Schrulligkeit, mit der Aussenseiter in den fünfziger Jahren gezeichnet worden waren, ein bedenkliches Comeback.
Falschmünzer oder Richtigmünzer?
Nicht alle alten Schweizer Filme waren auf vorzeitige Versöhnung angelegt. Dies gilt namentlich für die Versuchsphase der dreissiger Jahren, als man auf Produzentenseite noch nicht genau wusste, welche Stoffe überhaupt ein Publikum in der Schweiz ansprechen würden. "Farinet" müsste man heute als Autorenkino bezeichnen: Max Haufler und Charles Vaucher scheuten als Produzenten, Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler keinen Aufwand, als sie 1938 Ramuz' Roman über den berühmten Falschmünzer Farinet verfilmen wollten, der über eine eigene geheime Goldmine verfügt. Sie erzählten die Geschichte ohne Rücksicht auf Kinokonventionen, konsequent aus der Optik des Falschmünzers. Farinet wurde dadurch "der einzige gefeierte unintegrierbare Querulant des Schweizer Films": Hoch oben in den Bergen macht er sich über die uniformierten Beamten lustig, die mit ihren Gichtknochen umsonst die Verfolgung aufgenommen haben. Und seine Sympathisanten im Dorf geben zu bedenken, dass Farinet eigentlich kein Falsch-, sondern ein Richtigmünzer sei: Seine Währung sei echt, während doch der Staat willkürlich Ziffern auf Münzen präge...
Als "Farinet" 1939 in die Kinos kam, wollte die Bevölkerung indes keinen anarchistischen Freiheitshelden sehen. Bereits im Vorjahr hatte "Füsilier Wipf" (Hermann Haller, Leopold Lindtberg) der einheimischen Produktion inhaltlich den Weg gewiesen: Jeder dritte kinomündige Schweizer sah die Geschichte vom Coiffeurgesellen, der sich im Aktivdienst 1914/18 vom Milchbüebli zum Mann wandelt und dabei in einem Mädchen vom Land, das er gegen das 'Stadttüpfi' Rosa tauscht, erst noch die richtige Liebe findet. Allfällige Unstimmigkeiten unter den Kameraden wurden in diesem Film vorzugsweise durch Gesang mit Handorgelbegleitung vertrieben. Den aufkommenden Grenzkoller bändigte in einer längeren Rede der sprach- und ausdruckgewaltige Schauspieler Heinrich Gretler, der mit diesem Auftritt zum Hauptsprecher des Kinos im Dienst der Geistigen Landesverteidigung avancierte. Wenig später, in "Gilberte de Courgenay" (Franz Schnyder, 1941), redete Gretler als Götti Odermatt dem dienstmüden Kanonier Hasler ins Gewissen, und als Landammann Stauffacher führte er im gleichnamigen Film (Leopold Lindtberg, 1941) die fürs erste völlig auf sich allein gestellten Schwyzer in die Schlacht gegen die Habsburger, obschon der Landammann im Film kurz zuvor den eigenen Sohn verloren hatte.
Landesverteidigung I und II
Diese Rollen prägten Gretlers Ruhm als Schauspieler in der Schweiz buchstäblich für Jahrzehnte. Bezeichnenderweise ist ein anderer Filmauftritt aus dieser Zeit, in der Gretler einen knorrigen Aussenseiter spielt, praktisch unbekannt geblieben, jener als Arnold Murer in "Steibruch" (Sigfrit Steiner, 1942): Mit einem Texanerhut bekleidet kehrt Murer aus den USA zurück, wo er zwölf Jahre, wie sich herausstellt, unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Oberhalb des Heimatdorfs lässt er sich im verlassenen elterlichen Steinbruch nieder und will fortan mit niemandem mehr etwas zu tun haben. Einzig der Dorfidiot Näppi (gespielt von Max Haufler) darf sich in seiner Nähe aufhalten. Er ist, so erfahren wir allmählich, Murers uneheliches Kind. Murer, dessen Aussenseitertum bereits in der Kleidung mit Dächlikappe und unhelvetischem Overall zum Ausdruck kommt, ist für einmal nicht der Typ mit der harten Schale, "der sich bei günstiger Gelegenheit den Luxus des weichen Kerns leisten wird." Im Gegenteil: Gegen die zudringlichen Honoratioren des Dorfes setzt sich der trotzige Steinbruchbesitzer entschlossen zur Wehr. Näppi reicht ihm zur Verteidigung einen Karabiner, eine innerhalb des alten Schweizer Films geradezu skandalöse Szene.
"Wilder Urlaub" griff 1943 das heikle Thema der Dienstverweigerung auf. Dabei gaben sich Regisseur Franz Schnyder und Drehbuchautor Richard Schweizer vordergründig geradezu klassenkämpferisch: Mitrailleur Hermelinger schlägt in einem Streit seinen Vorgesetzten Wachtmeister Epper nieder und flieht hernach von seiner Einheit nach Zürich, von wo aus er sich am folgenden Morgen nach Frankreich absetzen will. Rückblenden während der kommenden Nacht zeigen die Vorgeschichte des Konflikts: Hermelinger als Bube, barfuss in einer Schulbank sitzend, lässt seinen Nachbarn Epper abschreiben, so dass dieser die Aufnahmeprüfung in die höhere Schule schafft, die ihm selber aus Finanzgründen verschlossen bleibt; Hermelinger mit ölverschmierten Händen unter einem Auto an der Arbeit, während Epper auf einem teuren Motorrad vorfährt; Hermelinger durch einen Zaun von seinem ehemaligen Schulkameraden getrennt, der mit einer Dame Tennis spielt. Doch nun, nach drei Vierteln des Films, kehrt die Argumentation unvermittelt: Von einem Offizier in Zivil, der selber als Student versagt hat, jetzt aber dabei ist, gegenüber seinem Einheitskommandanten und seinen Eltern reinen Tisch zu machen, lässt sich Hermelinger ermahnen: Keiner sei "bei uns" allein, wir hätten nur eine kleine Armee und deshalb komme es auf jeden Einzelnen an. Nur folgerichtig, dass der vermeintliche Deserteur zum Filmschluss nicht nach Marseille sich absetzt, sondern reumütig zu seinen Kameraden in Bergdietikon zurückkehrt, wo übrigens Wachtmeister Epper entgegen unserer Annahme doch nicht tödlich verletzt ist und sogar seine Mitschuld am Vorfall eingesteht.
Sozialexotik im Bahnschuppen
Dass der Kalte Krieg gerade nicht den Nährboden abgab, auf dem Oppositionelle sich filmisch hätten durchsetzen können, bedarf wohl keiner langen Ausführungen. Alfred Rasser war bereits gebranntes Kind, als er 1960 seinen Bühnenhit "H.D.-Soldat Läppli" verfilmte: Wegen einer Chinareise war er 1954 unter schweren Beschuss von bürgerlicher Seite geraten, und als nach dem Ungarnaufstand vom Oktober 1956 die stramm anti-kommunistische Grundhaltung in der Schweiz in offene Hysterie umschlug, durfte selbst das harmlose Kurzfilmchen "Läppli am Zoll" (1954) vorübergehend nicht mehr gespielt werden. Rassers abendfüllende "H.D."-Schwejkiade von 1960 hielt sich danach bezüglich Militärkritik zurück. Eher Oel als Sand im Getriebe, geisselte der Film nicht die hierarchischen Strukturen, sondern parodierte aus der Sicht des übereifrigen Tolpatsches bestimmte Auswüchse eines allzu stur gehandhabten Militärbetriebs.
Nichts verkörpert die grimmig-sture Stimmung der fünfziger Jahre präziser als die Person von Schaggi Streuli. Als Autor und Hauptdarsteller von "Polizist Wäckerli" (Kurt Früh, 1955) führte er jenen Gesetzeshüter in die Schweizer Geistesgeschichte ein, vor dessen Auge zunächst einmal jeder als verdächtig gilt: der Geselle Bader aus der Milchhütte wegen seiner Abstammung - er ist ein Unehelicher; der Schlaumeier Töbeli, weil er gerne eins über den Durst trinkt und ununterbrochen schwadroniert (Originalton Wäckerli: "Höred emaal uuf lüüge, meined Ehr eigentli, eusereins sig en Toorebueb?"); ja selbst des Ordnungshüters eigener Sohn ("Loss, Ruedi, das isch Löölizüüg"). Die Unglücksraben, die der vorurteilsbehaftete Polizistenblick trifft, bekommen nicht einmal die Chance, ihre Unschuld zu beweisen: "So, saisch nüüt, ja nu, besser als aalüüge."
In andern Filmen Kurt Frühs, die ohne die Mitarbeit Streulis entstanden, lag das Herz näher bei den Randgruppen. In "Hinter den sieben Gleisen" (1959) bestritten drei Clochards sogar die Haupthandlung, doch unglücklicherweise entgingen sie der Klischierung nicht, genau so wenig wie die wenigen Ausländer, die sozusagen als Beigabe zur einheimischen Gesellschaftsflora ins Bild gerieten: Servelatsbratend hausten die Drei, die ab und zu einem italienischen Marronibrater ein paar Bananen klauten, in einem verlassenen SBB-Schuppen, in dem ausgerechnet noch ein deutsches Dienstmädchen ein Kind zur Welt brachte. - Mit derartig realitätsfernen Geschichten schaufelte sich der alte Schweizer Film in der ersten Hälfte der sechziger Jahre selbst das Grab.
Der Aufbruch von 1968
Der neue Schweizer Film, dessen Anfänge auf das Jahr 1964 zu datieren sind, als an der EXPO in Lausanne fünf Kurzfilme unter dem bezeichnenden Titel "La Suisse s'interroge" (Henri Brandt) zu sehen waren, ging von völlig andern Voraussetzungen aus als der alte. Personell von einer andern Generation getragen, suchte er sein Glück fürs erste nicht auf der Kinoleinwand, sondern fühlte sich in Gemeindesälen oder Mehrzweckgebäuden genauso geborgen, und war demzufolge auch nicht darauf angewiesen, den kleinsten gemeinschaftlichen Nenner mit Kinobesitzern, Verleihern und Publikumsgeschmack anzustreben.
Die zahlreichen kleinen, häufig experimentellen Filme, die ab 1964 in der Schweiz entstanden, sind fast ausnahmslos Vorläufer des Aufbruchs von 1968: In "Chicorée" (Fredi M. Murer, 1966), dem Portrait des Untergrundpoeten Urban Gwerder, wurden farbige Happenings gegen den schwarzweissen Alltag gesetzt. Um Selbstverwirklichung und Freiheit ging es auch in "Happy Birthday" (Markus Imhoof, 1967): Ein Jugendlicher schleicht aus der sterilen Feier davon, die um seinen 18. Geburtstag herum veranstaltet wird, entwendet das Auto seines Vaters und baut prompt einen Unfall, so dass die engstirnigen Ansichten seiner Verwandten nun mit doppelter Wucht auf ihn zurückfallen.
Ausbruch und Aufbruch war auch Thema der ersten abendfüllenden Spielfilme im neuen Schweizer Film, die aus der Romandie kamen: "Charles mort ou vif" (Alain Tanner, 1969), einer der intelligentesten je hierzulande gedrehte Film, porträtierte einen fünfzigjährigen Fabrikanten namens Charles Dé, der noch während den Festlichkeiten zu seinem runden Geburtstag Betrieb und Familie verlässt. Nachdem er seine Brille abgelegt hat, darf sein wahres Gesicht zum Vorschein kommen, und nun beginnt er erst, klar zu sehen. Auf dem Land findet er Unterschlupf bei einem Konkubinats-Paar, das von Gelegenheitsarbeiten lebt. Seine Tochter versorgt ihn heimlich mit aufklärerischer Lektüre. Sein Sohn hingegen lässt ihn von der Polizei überwachen und setzt seine Internierung als Verrückten durch. Charles Dé behält indes das letzte Wort: "Wer zuletzt lacht, lacht am besten."
In Alain Tanners nächstem Film "La salamandre" (1971) ging es um eine Aussteigerin im Jugendalter: Zwei Journalisten sollen erkunden, ob das Mädchen Rosemonde wirklich mit dem Karabiner auf ihren Onkel geschossen hat. Doch die kriminalistische Recherche gerät zusehends in den Hintergrund: Die männlichen Schreiberlinge erkennen, dass ihre Papiergeschichten nicht alles sind, und Rosemonde - der Salamander, der durch Feuer geht, ohne Schaden zu nehmen - lernt, Freunde und Feinde genauer zu orten. Sie widersetzt sich ungerechten Schikanen, lässt aus Protest die Wurstmaschine überquellen, an der sie tagelang steht, und quittiert zum Schluss den Job im Latschenladen, wo ihr der Juniorchef dauernd nachstellt.
Die Änderung der Verhältnisse
Mehr noch als den Spielfilm prägten Aussenseiter den neuen Schweizer Dokumentarfilm. An Randgruppen hatten sich nach 1968 die patriotisch-demokratischen Losungen der Heimat einer èberprüfung zu unterziehen. Bemerkenswert war, dass diese engagierten Filme keineswegs in belehrendem Ton daherkamen. Vielmehr erteilten sie den Betroffenen selbst das Wort, was nicht allein für Authentizität bürgte: Indem die Benachteiligten selbst die Gründe für die gesellschaftliche Zurücksetzung beim Namen nannten, wirkten sie bereits auf eine Veränderung eben dieser Verhältnisse hin.
Schon 1964 hatte sich Alexander J. Seiler in "Siamo italiani" der mächtigsten AusländerInnengruppe in der Schweiz zugewandt und deren meist verborgenen Alltag sichtbar gemacht. Das Schweizer Publikum sah sich unversehens mit den eigenen Vorurteilen konfrontiert, wenn Einheimische im Film "den" Italienern gleichzeitig vorhalten, samstags "den ganzen Migros leerzukaufen", aber auch "alles Geld nach Hause zu schicken". - Um eine alte Dame, die in ein Heim abgeschoben werden soll, ging es in "Angèle" (Yves Yersin, 1968): Eine verwitwete Lausanner Bürgerin verarmt in Paris und wird in ihre Heimatgemeinde abgeschoben, wo man für sie "in der Ruhe der Landschaft" ein Heim sucht. Anhand der unerträglichen Erfahrungen bei ihrem Eintritt ins Altenasyl werden Entmündigung, Entprivatisierung und Anonymität des Heimalltags erlebbar gemacht.
Mit Invaliden zusammen gestalteten Urs und Marlies Graf "Behinderte Liebe" (1975). Der Film machte deutlich, was es heisst, dauernd auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, auf Zugsfahrten stets im ungeheizten Gepäckwagen zu reisen, kaum je als Menschen, sondern immer zuerst als Behinderte angesprochen zu werden. Unvergessen blieb die Bemerkung, Invalide versuchten das ganze Leben lang, jene Unauffälligkeit zu erreichen, welcher die "Normalen" zeitlebens zu entfliehen hoffen. Integration, Solidarität und Liebe stehen als Alternative: "In einer Epoche, in der die 'Gesunden' nicht mehr wagen, das Ganze zu fordern, tun es diese Behinderten noch mit ganzer Seele und machen so auf die seelische Behinderung des Zuschauers aufmerksam."
Als Bürger zweiter Klasse fühlten sich auch die Bergbauern, mochten sie an nationalen Feiertagen noch so sehr als Vorzeigepatrioten gefeiert werden. Fredi M. Murers "Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind" (1974), vermittelte Dokumentarmaterial aus erster Hand über ein innerschweizerisches Entwicklungsgebiet. Er machte sich dabei die Sichtweise der Urner Bergbevölkerung zu eigen und beschwor so einen vor Zeiten gültigen Lebenszusammenhang - den 'Ring' - und dessen Gefährdung, Abbau und Verschwinden in der Gegenwart.
"Die letzten Heimposamenter" (Yves Yersin, Eduard Winiger, 1974), wohl der vielschichtigste ethnographische Film über die Schweiz, porträtierte die aussterbende Seidenbandweberei im Baselbiet vor dem Hintergrund einer 150-jährigen Entwicklung. Wiederum waren es die Betroffenen selbst, die eine Illustration von verinnerlichter Herren- und Knechtmentalität vermittelten, gleichzeitig aber auch den unwiederbringlichen Verlust ahnen liessen, der mit dem Untergang dieser Produktionsstruktur verbunden ist.
Mit "Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S." (Richard Dindo, Niklaus Meienberg, 1976) wandte sich der neue Schweizer Dokumentarfilm den Mythen der Vergangenheit zu. Angehörige und Bekannte von Ernst S., der 1942 als erster von dreizehn Landesverrätern zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, erinnerten sich. Eindrücklich wurde der Nachweis erbracht, dass man während des Zweiten Weltkriegs die kleinen Verräter hängte. Die Gegenseite hatte, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die Mitarbeit am Film verweigert, holte dann, nach der Fertigstellung, zum grossen Schlag aus. Als nämlich die Autoren für ihre einfühlsame Recherche eine Bundesprämie erhalten sollten, wurde Dindo und Meienberg entgegengehalten, ihr Werk sei unwissenschaftlich und unausgewogen, dies ausgerechnet von jenen Kreisen, die die Arbeit am Film teilweise sabotiert und in fast allen Fällen den fertiggestellten Film gar nie gesehen hatten.
Restauration und Eurofilm
Es war eine der Stärken der Bewegung von 1980/81, dass sie sich nie selbst erklärte und sich nirgendwo anbiederte. "Züri brännt" (Videoladen, 1980), die Video-Chronik des heissen Sommers von 1980, widerspiegelt dieses Selbstverständnis: Ein aggressiver, rücksichtsloser Kommentar pusht die häufig unscharfen und wenig kontrastreichen Bilder des Bandes, geht auch nachträglich nicht auf Distanz und macht den Film so zur extremsten Selbstdarstellung einer Oppositionsbewegung in der Schweiz.
Doch "Züri brännt" blieb ohne Folgen, in der Politik wie im Film. Gesamthaft gesehen ist dem Schweizer Dokumentarfilm in den achtziger Jahren die oppositionelle Kraft abhanden gekommen. Immer häufiger, und selbstverständlich in modischem Grün, wurden Aussenseiter als schrullige Sonderlinge präsentiert, so als Drechsler, Klauenschneider oder Schlangenfrauen ("Michel Marlétaz, boisselier", Jacqueline Veuve, 1988; "Alois Camenzind", Bernard Weber, 1989; "Queen of Elastic", Lucienne Lannaz/Grety Klay, 1987). Beliebt waren in jüngster Vergangenheit auch Portraits bildender Künstler, die dem Lauf der angeblich unverständlichen Welt mit ihren postmodernen Werken entgegentreten ("Lieber Raffi", Roland Huber, 1987; "Martin Disler - Bilder vom Maler", Urs Egger und Samir, 1988; "Der Neapel-Fries", Gaudenz Meili, 1988).
Auch im Spielfilm der achtziger Jahre setzten sich restaurative Tendenzen durch. Jene Spielfilme, die ihr Publikum hauptsächlich in der Schweiz anzusprechen hoffen, orientieren sich wieder an Handlungsmustern und Rollen der fünfziger Jahre. Er wimmelt darin - unübersehbare Parallele zur Tendenz im Dokumentarfilm - von schrulligen Figuren, denen unsere Sympathien von vornherein zukommen, die aber niemals unbequem werden. Die Weichenstellung hatte 1979 die TV-Produktion "Das gefrorene Herz" (Xavier Koller) vollzogen, die im nächsten Jahr zu einem überraschenden Kinoerfolg wurde: Das Begräbnis eines Schirmflickers wird von einem Freund des Verstorbenen so arrangiert, dass er mit der in Aussicht gestellten grossen Erbschaft gleich zwei Dörfer zu einem feudalen Leichenmahl überreden kann. - Bemerkenswert ist, dass auch die Leute aus dem Umfeld der Zürcher Unruhen und des daraus entstandenen Videoladens sich dieser restaurativen Darstellung von Aussenseitern verschrieben. "Filou" (Samir und Martin Witz, 1988) offerierte einen Bildmix von Italienern, Huren, Türken, Drögelern und Spielern aus dem Zürcher Stadtkreis Aussersihl, verpasste es aber, den Personen Tiefgang und Widersprüchlichkeit zu verleihen.
Oppositionelle kamen im Schweizer Film der achtziger Jahre nur noch als historische Figuren vor. In "Der schwarze Tanner" (Xavier Koller, 1985) widersetzt sich ein Schwyzer 'Gummelipuur' während des Zweiten Weltkriegs der Anbauverpflichtung durch die Behörden. Das Thema hätte 1953 oder 1961 durchaus einen progressiven Filmstoff abgegeben, bei seinem Erscheinen 1985 löste die Geschichte kaum noch Diskussionen aus. Wieviel anders hätte um die Mitte der achtziger Jahre ein zeitgenössischer Spielfilm über die Besetzerin eines AKW- oder Waffenplatzgeländes gewirkt; doch dafür wären wohl die Gelder des allmächtigen Finanzgestirns EDI-SRG-Migros-Landeskirchen-Kantone schwerlich zu mobilisieren gewesen.
Ob das Liebäugeln mit dem Euromarkt dereinst zu verbindlicheren Ergebnissen wird, darf füglich bezweifelt werden. Die bisherigen Schweizer Eurofilme zumindest brachten keine Oeffnung nach Aussen, sondern eine Verengung des Ansatzes, blendeten sie doch all jene Merkmale aus, die gemäss dem marktbeherrrschenden Unterhaltungsfilm angeblich einer internationalen Verwertbarkeit des Produktes Film entgegenstehen: Beruf, Schicht, Herkunft, Tätigkeit und politische Wertvorstellung. Dementsprechend flau und unverbindlich nahmen sich dann die fertiggestellten Filme aus: In "Quicker than the Eye" (Nicolas Gessner, 1988) bestand das Personal des Films aus einem Magier französischer Provenienz und dessen Assistentin, welche die dauernden Seitensprünge ihres Brötchengebers beklagte. "Konzert für Alice" (Thomas Koerfer, 1985) wählte Zürich zur Adventszeit zum Schauplatz. Mit einer Pedalofahrt auf der winterlich-erleuchteten Limmat zog dieser Film, vermutlich unbewusst, eine Parallele zu "Der 42. Himmel" (Kurt Früh, 1962), einem der letzten und schlechtesten alten Schweizer Filme. War die werktätige Bevölkerung damals durch einen Drehorgelreparateur, einen Bärendompteur und einen Standesbeamten vertreten, so war sie es in "Konzert für Alice" durch einen russischen Querflötenspieler mit Kruselhaar und eine junge, blass-blonde Gassenmusikantin, die mit dem Konservatorium liebäugelte. Verkehrssprache war hochdeutsch.
Literatur und Zitate
Aeppli, Felix: Schrullig, zahm und selbstzufrieden: Der Schweizer Film der achtziger Jahre. In: Zoom 1/1992, S. 18-25.
Dumont, Hervé: Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896-1965. Lausanne 1987.
Portmann, Stephan: Der neue Schweizerfilm 1963-1985. Freiburg 1991.
Rueb, Franz: Alfred Rasser. Zürich 1975.
Schaub, Martin: Die eigenen Angelegenheiten: Themen, Motive, Obsessionen und Träume des neuen Schweizer Films 1963-1983. Jahrbuch Cinema 29. Jg. Basel Frankfurt a.M. 1983.
Schlappner, Martin und Martin Schaub: Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films. Zürich 1987.
Seiler, Alexander J., Wilhelm Roth, Urs Jäggi et al.: Film in der Schweiz. München Wien 1974.
Wider, Werner, Felix Aeppli: Der Schweizer Film 1929-1964. Die Schweiz als Ritual. Zürich 1981 (2 Bände)
Quelle
Sonderfall? -Die Schweiz zwischen Réduit und Europa (Ausstellungskatalog), Schweiz. Landesmuseum Zürich, 1992, S.187-196
Felix Aeppli's Web-Dokumentation Schweizer Film und Film in der Schweiz
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